Eine Liebeserklärung von Norbert Trawöger
Die Musik erinnert uns daran, was Liebe ist. Wenn jemand vergessen haben sollte, was Liebe ist, dann sollte er Musik hören“, schreibt Adam Zagajewski in seinem Tagebuch ohne Datum „Die kleine Ewigkeit der Kunst“, einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Unentbehrlichkeit der Kunst in der modernen Welt. Liebe ist ein großes Wort, bleiben wir bei Nähe. Musik verlangt nach den Ohren der Spielenden und Zuhörenden. Zusammengehörigkeit, Zugehörigkeit bedingt Gehör. Wir schenken Gehör, heißt es im Gebrauch unserer Sprache.
Anfang Dezember 2023 haben wir mit den „Tremolo“-Konzerten des Bruckner Orchesters im Linzer Redoutensaal das Bruckner-Jahr eingeschwungen. Seitdem hat sich in den letzten neun Monaten – der Vergleich mit der Dauer einer Schwangerschaft ist rein zufällig – im gesamten oberösterreichischen Luftraum und darüber hinaus, eine Welle von Ereignissen, Veranstaltungen, Konzerten, Performances, Zusammenkünften, Gesprächen oder Ausstellungen ausgebreitet, die nur in der Vielfalt des Gemeinsamen, im Wir entstehen konnte. Bruckner brachte und bringt uns gehörig – da steckt schon wieder das Gehör drinnen – in Bewegung, die sich am 200. Geburtstag, den 4. September 2024, in einem 24-Stunden-Fest, in 86400 Sekunden verdichtet hat.
Wir begannen um 0 Uhr im Mariendom mit der weltumspannenden Soundinstallation „Silent Echoes“, eine Produktion der Kulturhauptstadt in Kooperation mit der OÖ KulturEXPO, der Ars Electronica und anderen Partnerinnen. Schon um die Zeit lauschten Dutzende Menschen dem poetischen Klang, der abschmelzenden Gletscher und der Eigenvibration der Glocken von Notre Dame. Und der Tag endete wieder im Mariendom, die letzten beiden Stunden gehörten einem quantenphysikalischen Klangereignis, dem Kammermusikensemble des Bruckner Orchesters, die die „Siebte“ in der Schönberg-Fassung erklingen ließen, und zum Schluss dem ungeheuren Sog das Gitarrenensembles NoFive. Dazwischen lagen große Konzerte in St. Florian und Ansfelden, Ereignisse in Vöcklabruck, Steyr, Windhaag, Kirchdorf an der Krems und Kronstorf.
Als ich um 22 Uhr den Mariendom betrat, erwartete ich ein paar Hundert Menschen, in Wirklichkeit waren es viele mehr. Vor „BruQner“, dem ersten quantenphysikalischen Konzertereignis der Musikgeschichte, hielten die Wissenschaftlerinnen eine 25-minütige quantenphysikalische Einführungslecture vor 3000 Menschen im größten Kirchenraum Österreichs – und dies bei einer Stimmung wie am Fußballplatz. Allein dieses Faktum macht sprachlos, schafft Luft für Möglichkeiten, die sich seit einem Jahr in einer Dichte im ganzen Land ereignen.
Die nachhaltigste Investition dieses Jahres ist, dass wir vielfältige Erfahrungen des Gemeinsamen machen. Das Bruckner-Jahr kann uns klarmachen, dass ein Ankommen im Wir immer wieder neu zu wagen und zu verhandeln ist. Es liegt an uns, verschaffen wir uns selbst Luft und Nähe!